Sicherheit
29.07.2022

Ein neues Europa. Warum ist die europäische Integration der Ukraine wichtig für die Energiesicherheit Deutschlands

Ein neues Europa. Warum ist die europäische Integration der Ukraine wichtig für die Energiesicherheit Deutschlands

Energieminister der Ukraine Herman Galushchenko

Am 21. Februar 2022 erklärte der russische Präsident Wladimir Putin die sogenannte “Unabhängigkeit” der vorübergehend besetzten Gebiete der Regionen Luhansk und Donezk in der Ukraine. Weniger als eine Woche zuvor hatte er in Moskau ein Treffen mit dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Olaf Scholz, bei dem die Politiker über das europäische Sicherheitssystem und den Abbau der Spannungen sprachen, die durch die russischen Truppenansammlungen an der russisch-ukrainischen Grenze entstanden sind.

 Dieser demonstrativer Akt Putins strich ihn von der Liste fähiger europäischer Politiker.  Und alles, was nach dem 24. Februar geschah – ein großangelegter Angriff auf die Ukraine, Bombardierung friedlicher Städte, Beschuss und Beschlagnahme von Kernkraftwerken, Massentötungen von Zivilisten in Butscha und vielen anderen Städten und Dörfern der Ukraine – schloss Putins Russland von der Liste der “Rechtsstaaten” aus und stellte seine politische Elite auf eine Stufe mit den Kriegsverbrechern der Vergangenheit.

 Putins aggressive neoimperiale Politik der letzten zwei Jahrzehnte basierte auf der Überzeugung, dass Europa nicht genug Kraft und Entschlossenheit hat, um Russlands wichtigste Rohstoffe, Öl und Gas, aufzugeben. Und dieses Selbstbewusstsein richtete sich zunächst an Deutschland, die Wirtschaftslokomotive der EU, welches einer der Hauptverbraucher russischer Energierohstoffe war.

Genau Deutschland wurde zu einem der “Motoren” des Embargos gegen russisches Öl

 Aber drei Tage nach Beginn einer groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine geschah etwas, das nicht nur im Kreml, sondern wahrscheinlich in Europa selbst nicht erwartet wurde. In einer Dringlichkeitsbotschaft im Bundestag forderte Olaf Scholz am 27. Februar eine Kehrtwende der deutschen Politik gegenüber Russland und versprach, die Ukraine mit Waffen zur Abwehr von Aggressionen zu beliefern und Russlands Energieressourcen aufzugeben.

 Tatsächlich wurde Deutschland zu einem der “Motoren” des Embargos gegen russisches Öl – obwohl diese Entwicklung noch im März unrealistisch schien.  Aber innerhalb von 8 Wochen sank Deutschlands Abhängigkeit von russischem Öl von 35% auf 12%, was die Entschlossenheit der deutschen Regierung demonstriert.  Deutschland geht sogar noch weiter und erklärt nicht nur einen Verzicht auf Tankeröl, der im Sechsten Sanktionspaket der EU diskutiert wird, sondern auch einen freiwilligen Verzicht auf den Anteil russischen Öls, den das Land über die Druschba-Pipeline erhält.

 Gleichzeitig hat die russische Aggression die Anfälligkeit des deutschen Energiemixes offengelegt, insbesondere im Hinblick auf den Verbrauch von russischem Gas, das etwa die Hälfte der Importe ausmacht.  Gerade diese Herausforderungen wurden am 2. Juni bei einem von der Heinrich-Böll-Stiftung organisierten Gespräch diskutiert, an dem auch Vertreter der Ukraine teilnahmen.  Steigender Einkauf von verflüssigtem Erdgas und Schaffung der notwendigen Infrastruktur, Diversifizierung der Gasversorgungsquellen, Bau neuer Gasspeicher sind einige der Elemente der neuen deutschen Energiepolitik.

Der Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland bedeutet, dass Deutschland seine geopolitische Rolle überdenken muss.  Und hier sollten wir uns den Ansichten von Konrad Adenauer zuwenden, dessen Politik darauf abzielte, ein “neues Deutschland in einem neuen Europa” zu schaffen. Die Politik, aus der Deutschland und die Europäische Union hervorgegangen sind.

Die Konturen des neuen Deutschland zeichnen sich ab und die Priorität der energetischen Unabhängigkeit ist bereits klar. Die Konturen des zivilisierten Europas sind längst abgezeichnet. Eine der Schlüsselfragen für die Zukunft der Europäischen Union bleibt jedoch noch zu lösen – die Frage ihrer Ostgrenze, die gleichzeitig der Schutzschild der EU gegen die russische Bedrohung sein wird.

 Die Ukraine hofft, im Juni bei einem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union den EU-Kandidatenstatus zu erlangen.  Schließlich musste kein anderes Land in der Union europäische Werte auf Kosten von Opfern wie der Ukraine verteidigen.  Es ist das erste Land, das im 21. Jahrhundert physisch für die Existenz der europäischen Zivilisation kämpft.  Und ich hoffe, dass kein anderes europäisches Land das erleben muss, was wir gerade erleben.

Die Mitgliedschaft der Ukraine in der EU ist die Antwort auf die Frage über die Ostgrenze des neuen Europas. Dazu brauchen wir die Unterstützung Deutschlands, sowohl als einen der Architekten der EU als auch als einen ihrer Führer.

 Für Deutschland kann die Ukraine ein verlässlicher Partner werden, auch im Energiesektor, der das giftige und aggressive Russland ersetzt. Das Paradigma der deutsch-russischen Energiepartnerschaft basierte auf der Nutzung von Kohlenwasserstoffen – eigentlich Energie von gestern, angesichts der Politik des europäischen Grünen Kurses und der ambitionierten Klimavorgaben der deutschen Gesellschaft.

Die Ukraine kann Deutschland helfen, seine Energieunabhängigkeit zu stärken und Klimaneutralität zu erreichen

Die Ukraine kann Deutschland dabei helfen, zwei Hauptziele zu erreichen: einerseits die Stärkung der Energieunabhängigkeit und andererseits das Erreichen der Klimaneutralität. Dieses gegenseitige Interesse spiegelte sich bereits vor dem Krieg im Koalitionsvertrag der neuen Regierung wider, der die Absicht beschrieb, die Energiepartnerschaft mit der Ukraine als einem Land mit “großen Ambitionen in erneuerbaren Energien, grüner Wasserstoffproduktion, Energieeffizienz und CO2-Reduktion” zu vertiefen.” Mit Beginn der russischen Aggression wurde diese Absicht noch dringender.

Vor dem 24. Februar verfolgte Deutschland eine Strategie, die auf die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen, den Ausstieg aus der Kernenergie und die Nutzung von Erdgas als Transitbrennstoff setzte. Doch seit dem 24. Februar hat der Abzug von russischem Öl und Gas als “Treibstoff” für den großen kontinentalen Krieg, den Moskau führt, oberste Priorität.

In dieser Situation würde es sich für Deutschland wahrscheinlich lohnen, die vorhandenen Kernkraftwerke bis Ende 2022 weiter zu nutzen. Dadurch würde Gas für die Stromerzeugung eingespart (Deutschland erzeugt etwa 15% seines Stroms aus Gas). Die Einsparungen könnten sich auf 9 Milliarden Kubikmeter oder rund 18% der gesamten Gaseinfuhren des Landes aus Russland (50,74 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2021) erreichen.

Klar ist, dass Deutschland wieder auf die Schließung seiner Kernkraftwerke zurückkommen wird, wenn sich die Energiesituation stabilisiert, Verträge mit neuen Lieferanten geschlossen und die notwendige Infrastruktur für Flüssigerdgas geschaffen werden.

Die Ukraine kann Deutschland helfen, Russlands Gasabhängigkeit loszuwerden, indem es seine unterirdischen Speicheranlagen bereitstellt, um eine strategische Reserve aufzubauen. Da die Ukraine und Deutschland über die größten Gasspeicher in Europa verfügen (30 Milliarden Kubikmeter bzw. 24 Milliarden Kubikmeter), wird ihre Nutzung innerhalb des Binnenmarktes in Mittel- und Osteuropa die Energiesicherheit Deutschlands und der Region erheblich stärken.  

Aber was die Dekarbonisierung der Energie im Allgemeinen betrifft, bewegt sich die Ukraine in einer etwas anderen Logik als Deutschland. Trotz der Entwicklung erneuerbarer Energien, die bis 2030 25% des gesamten Energiemix erreichen sollen, ist die wichtigste kohlenstofffreie Erzeugung in der Ukraine die Kernenergie, die mehr als 50% des Stroms ausmacht. Generell besteht der ukrainische Energiemix bereits heute zu 70% aus kohlenstofffrei-produziertem Strom.

So kann die Ukraine, die seit dem 16. März ihr Energienetz mit dem kontinentaleuropäischen ENTSO-E-Netz synchronisiert hat, zum „Outsourcer“ von Strom für Deutschland werden. Dadurch entsteht eine Art Versicherungspolster in Zeiten witterungsbedingt rückläufiger Erzeugung aus Solar- und Windkraftanlagen.

Darüber hinaus können die Ukraine und Deutschland von einem großen Energiesystem profitieren, das sich in unterschiedlichen Zeit- und Klimazonen befindet. Der Zeitunterschied zwischen Kyiw und Berlin beträgt eine Stunde und die Stromverbrauchsspitzen der beiden Länder unterscheiden sich um eine Stunde. Dies erhöht die Liquidität des Marktes und ermöglicht es Deutschland so, ukrainischen Strom billiger einzukaufen, wenn die Nachfrage nach ihm zurückgeht oder es einen erheblichen Überschuss an „grüner“ Erzeugung gibt. Es ermöglicht auch der Ukraine, deutsche Windenergie in Überschusszeiten zu kaufen.

 Trotz des Krieges arbeitet die Ukraine weiterhin mit europäischen Partnern an der Integration der Strom- und Gasmärkte mit den europäischen Märkten. Dies bedeutet eine Vereinheitlichung des Marktverhaltens, des Wettbewerbs, der Umweltstandards usw. Wir schaffen rechtliche und technische Voraussetzungen für gemeinsame Auktionen zur Verteilung zwischenstaatlicher Übertragungskapazitäten und arbeiten an der Regulierung der Besteuerung von Transaktionen im transnationalen Handel mit elektrischer Energie. Darüber hinaus werden von ENTSO-E vorgegebene technische Maßnahmen zur Verbesserung der Dämpfung niederfrequenter Netzschwankungen im Parallelbetrieb mit dem kontinentaleuropäischen Stromnetz umgesetzt. All dies wird die technischen Voraussetzungen dafür schaffen, das Exportpotenzial des ukrainischen Energiesystems sowohl durch die bestehenden zwischenstaatlichen Leitungen als auch durch den Bau neuer Leitungen zu erhöhen.

Die Ukraine und Deutschland können im Bereich Erneuerbare Energien und Wasserstoff zusammenarbeiten

Langfristig können die Ukraine und Deutschland eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit im Bereich der erneuerbaren Energien entwickeln, um gemeinsame Projekte, insbesondere im Bereich Wasserstoff, durchzuführen.

Der Ausbau der Wind- und Solarenergie in Deutschland hat eine „physikalische Grenze“. Deutschland ist ein stark urbanisiertes Land mit wenig freiem Land. Gleichzeitig hat die Ukraine ein günstiges Klima und Landschaft für den Bau von Windparks und Kraftwerken. Die Ukraine hat auch das notwendige wissenschaftliche Potenzial für die Produktion von grünem Wasserstoff und ein entwickeltes Gastransportsystem für seinen möglichen Transport.

 Im Süden der Ukraine, in der Nähe des Schwarzen Meeres, gibt es eine große Anzahl von Küstengebieten, die aufgrund der klimatischen Bedingungen für die Landwirtschaft ungeeignet sind. Dafür gibt es dort die erforderliche Anzahl an sonnigen und windigen Tagen, um Strom zu erzeugen. 

So beträgt das Windenergiepotenzial der Ukraine laut Institut für Erneuerbare Energien der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine 438 GW am Land und 250 GW auf See. Die letztgenannte Zahl wird auch durch die Analyse der Weltbank bestätigt, die das Potenzial der Offshore-Stromerzeugung in den Schwarzmeerländern im Jahr 2020 auf 435 GW schätzt. Davon entfallen 250 GW auf das Meeresgebiet der Ukraine (zum Vergleich: Das geschätzte Windenergiepotenzial der Ostsee wird auf etwa 95 GW geschätzt). Die durchschnittliche jährliche Stromproduktion an Offshore-Stationen in der Ukraine kann 984 Milliarden kWh erreichen, was ausreicht, um 19,5 Millionen Tonnen grünen Wasserstoff durch Elektrolyse zu produzieren.

Die gemeinsame Nutzung des Windenergiepotenzials der Ostsee und des Schwarzen Meeres wird es Deutschland und der Ukraine ermöglichen, einen flexiblen Markt zu schaffen, indem sie die Stromflüsse entsprechend den Wetterbedingungen ausgleichen.

 Heute wird die Entwicklung des Energiepotenzials des Schwarzen Meeres durch geopolitische Risiken, die Militarisierung des Aquatoriums durch Russland und die allgemeine Kriegsführung eingeschränkt. Wenn wir jedoch an den Horizont bis 2050 denken, wenn die Ziele des Grünen Kurses erreicht werden sollen, muss die Energiebedeutung der nördlichen Schwarzmeerküste berücksichtigt werden – für ihre effiziente Nutzung ist es wichtig, dass die Ukraine im politischen und Sicherheitsraum der Europäischen Union liegt.

Nach dem 24. Februar 2022 erklärte Deutschland eine außenpolitische Kehrtwende und brach die Verbindungen zu Putins neoimperialem Russland ab, das überhaupt nicht mehr als Partner oder zivilisierter Staat angesehen werden kann.

Die Konsequenz dieser Entscheidung und die große Rolle, die Deutschland auf dem Kontinent spielt, erfordern auch den nächsten Schritt – eine Führungsrolle bei der Schaffung eines neuen Nachkriegseuropas, das die Ukraine einschließen wird.

Die Ukraine ist in vielerlei Hinsicht bereits de facto Teil eines vereinten Europas geworden. So wird die Ukraine in die externe Energiestrategie der EU aufgenommen, die Teil des globalen Plans von REPowerEU ist, russische Energie aufzugeben. Zu den Punkten der Strategie gehören die Einladung der Ukraine zur Teilnahme an der EU-Gasbeschaffung, die Beschleunigung von Reformen und Investitionen innerhalb der Östlichen Partnerschaft zur Förderung der Entwicklung erneuerbarer Energien, die Initiative REPowerUkraine zur Sicherstellung der Energieversorgung und Rückgewinnung ukrainischer Energie nach dem Krieg. Die positive Entscheidung des Europäischen Rates über die Ukraine als Beitrittskandidat in der Europäischen Union wird diese Integration de jure festigen und ein starkes motivierendes Signal an die ukrainische Gesellschaft sein, die heute für Europa und seine Werte kämpft. Wir sind dankbar für die Position der deutschen Gesellschaft, vertreten durch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, die die Geschichtlichkeit des Augenblicks betonte, dass die Tür der Ukraine nicht geschlossen werden kann und dass die Deutschen derzeit eine besondere Verantwortung haben.

Als Mitglied der Europäischen Union wird die Ukraine die Ostflanke Europas stärken, um sich vor militärischen Bedrohungen zu schützen. Das große Potenzial der Ukraine für die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen und die strategische deutsch-ukrainische Partnerschaft werden es Deutschland jedoch ermöglichen, seine Energieaufgaben im Rahmen des “grünen Übergangs” zu lösen und eine kohlenstoffneutrale Wirtschaft zu schaffen. Dies wird die Ukraine für langfristige deutsche Investitionen finanzieller, technologischer und wissenschaftlicher Art attraktiv machen, die wesentlich besser geschützt sein werden, wenn sich die Ukraine innerhalb des einheitlichen Sicherheits- und Rechtsrahmens der EU weiterentwickelt.

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