Hinter dem Schirm der “großen russischen Kultur”. Geschichten der Zerstörung und des Vergessens: der ukrainische Monumentalismus

Nach mehr als einem Monat Krieg wird die Idee, die russische Kultur “abzuschaffen”, von den meisten Europäern immer noch als das Ergebnis einer übermäßig emotionalen Reaktion traumatisierter Ukrainer wahrgenommen. Einige europäische Bildungs- und Kultureinrichtungen haben sogar eine gemeinsame Programme für Ukrainer, Weißrussen und Russen angekündigt (z.B. bietet die französische Agentur für auswärtige Angelegenheiten Unterstützung für russische und ukrainische Künstler an: https://bit.ly/3jJuXI1). Es ist nicht nur so, dass die russischen Liberalen ebenso Opfer ihres Regimes sind wie die Ukrainer. Ein tieferer und nicht immer bekannter Grund ist die Überzeugung, dass die ukrainische Kultur der russischen unterlegen ist und für westliche Zuschauer niemals interessant sein wird. Ukrainer und Russen waren schon immer gleichberechtigt, aber den Ukrainern ist es nicht gelungen, etwas so Wertvolles wie die russische Literatur, Kunst und das Kino zu schaffen.
Versucht man jedoch, die Tendenz zur Provinzialität und Andersartigkeit der ukrainischen Kultur zu dekonstruieren, so scheint sie das Ergebnis einer Reihe von Praktiken des russischen Reiches sowie der Sowjetunion und der Russische Föderation zu sein, und das schon zu einer Zeit, als das Regime noch nicht so absurd war wie das von Stalin. Diese Liste umfasst alle Arten von Repressionen – von der Ermordung von Missionaren und Autoren und der physischen Vernichtung ihrer Werke über die Auslöschung des Gedächtnisses und die Beschlagnahmung individueller Errungenschaften bis hin zur weitestgehenden Aneignung der ukrainischen Wirtschaft. In diesem Artikel untersuchen wir die Auswirkungen dieser Praktiken auf die Anwendung eines der am meisten selbst geschaffenen Phänomene der ukrainischen “zerstörte Renaissance” untersuchen – die Schule der monumentalen Kunst von Mychajlo Boitschuk.
Mychajlo Boitschuk (1882-1937) wurde in einem kleinem galizischen Dorf geboren. Dank seines Talents erhielt er eine europäische künstlerische Ausbildung und begann in Paris, dem größten kulturellen Zentrum seiner Zeit, zu arbeiten. Boitschuk, der sich an den Koryphäen der Avantgarde-Kunst orientierte, wurde nicht zum Epigonen Picassos, sondern schuf seine eigene, originelle Schule des “Neo-Byzantismus”, die ihre Wurzeln in der ukrainischen visuellen Identität hat. Ab 1917 arbeitete der Künstler in Kyiw und lehrte an der neu gegründeten Ukrainischen Akademie der Schönen Künste. Während des Zweiten Weltkriegs hörte das Atelier für monumentale Kunst von Mikhail Boychuk auch unter Artilleriebeschuss nicht auf zu arbeiten und wurde in den 1920er Jahren zum angesehensten Kunstverein Kyiws. Eine starke und originelle Lehrmethode (z. B. wurde den Schülern beigebracht, die Färbe selbständig zu mischen, wie es die mittelalterlichen Meister taten), die Kombination aus modernistischer Bildhauerei und einem gründlichen Verständnis der alten ukrainischen Tradition zog viele begabtesten jungen Künstler und Maler der Zeit in das Atelier: Wasyl Sedljar, Ivan Padalka, Oksana Pawlenko und viele andere.
Obwohl die wichtigsten visuellen Bilder für die Bojtschukisten die ukrainische Ikonografie und die Kirchenfresken der Kyiwer Rus’ waren, machte sich die neue Künstlergeneration die kommunistische Idee vom Aufbau einer neuen Welt zu eigen. Sie beschäftigten sich aktiv mit Agitprop und Street Art und schufen gemeinsam monumentale Gemälde, die auf der utopischen Idee basierten, eine neue Umgebung zu schaffen, in der ein neuer Mensch heranwachsen würde.
So verfassten die Bojtschukisten 1919 Agitationsbemalungen für die Lutsk-Kaserne in Kyiw, die zu dieser Zeit von der Roten Armee besetzt war. Diese Bemalungen umfassten die Einheit der Arbeiter, Szenen der Revolution und die Lebensweise der Roten Armee. Sie waren ein denkwürdiger Erfolg, und in den folgenden Jahren schufen die Bojtschukisten eine Reihe von Freskenkomplexen.
Keiner von diesen existiert mehr.
Die Bojtschukisten beschäftigten sich auch mit Staffeleimalerei (wobei sie die Temperafarben anstatt der Ölfarben nutzten), Grafik und Keramik. Das Hauptthema ihrer Arbeit war das Leben der Dorfbewohner in der neuen christlichen Welt, die ihnen neue Freiheiten und Möglichkeiten bot.
Wasyl Sedljar, In der Schule des Likneps, 1929
Oksana Pawlenko, Es lebe der 8. März, 1930-1931
Für die Bojtschukisten selbst ist jedoch keine glänzende Zukunft gekommen. Wie wir gesehen haben, standen sie keineswegs in Opposition zum Sowjetregime, aber das schützte sie nicht vor Repressionen. 1926-1927 unternahmen Mychajlo Boitschuk und seine Frau Sofia Nalepinska-Boitschuk, Ivan Padalka und Wasyl Sedljar eine kreative Reise durch Deutschland, Frankreich und Italien.
Diese Reise führte später zu ihrer Verhaftung sowie Anschuldigungen der „Spionage“ und der Beteiligung an einer „nationalen faschistischen Terrororganisation“, die angeblich darauf abzielte, sich von der Ukraine zu lösen und einen „ukrainischen nationalen faschistischen Staat“ zu gründen.
Im Juli 1937 wurden Boitschuk, Padalka und Sedljar in Kyiw erschossen, und im Dezember wurde auch Sofia Nalepinska-Boitschuk erschossen. Nur Oksana Pawlenko, die 1929 nach Moskau ging und dort blieb, konnte es vermeiden. Selbst inmitten des Großen Terrors war Moskau sicherer als Kiew.
Absurde Faschismusvorwürfe, panische Angst vor der bloßen Idee der unabhängigen Ukraine – all das kommt einem schmerzlich bekannt vor. Jetzt sind diese Anschuldigungen bereits an alle UkrainerInnen gerichtet. Und jeder Versuch, russische Gegner davon zu überzeugen, dass es keinen Faschismus hier gibt und dass die friedliche Ukraine niemals Russland angreifen würde, stieß schon vor dem Krieg auf eine Mauer aus Aggression und schlecht kaschierter Angst. Dieselbe Angst, die ihre Vorfahren dazu brachte, um die vollkommen loyale Künstler, die sich für ihre Sache engagierten, als Bedrohung zu betrachten, nur weil der visuelle Code ihrer Arbeit als Ukrainisch erkennbar war.
Dieser optische Unterschied wurde an sich als gefährlich angesehen und musste daher zerstört werden. Alle großen monumentalen Werke der Bojtschukisten in Kyiw, Charkiw und Odesa wurden zerstört. Auch Gemälde und Grafiken waren der Vernichtung geweiht, sowie die Werken anderer Avantgarde-Künstler wie Anatoly Petritsky, Oleksandr Bogomasov, Oleksandra Exter, die nicht dem Kanon des sozialistischen Realismus entsprochen. Diesem Zweck dienten museale „Sondervermögen“. Im Kyiwer Staatlichen Museum für Ukrainische Kunst (heute das Nationale Kunstmuseum der Ukraine) wurde 1937-1939 das geheime Sondervermögen eingerichtet, der Werke umfasste, die aus Kyiw, Charkiw, Odesa und Poltawa gebracht wurden. Das Inventarbuch, in das die Belege eingetragen wurden, ist voll von Etiketten wie „Formalismus“, „Volksfeind“, „Verzerrung der sowjetischen Realität“. Sogar das unschuldige und märchenhafte Werk von Tymko Bojtschuk, dem Bruder von Mychajlo Boitschuk, „Neben dem Apfelbaum“ „verzerrt die Realität“.
Tymko Bojtschuk, Neben dem Apfelbaum, 1921
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trat der Kampf gegen die “falsche Kunst” in den Hintergrund. Doch in der Nachkriegszeit begann sie mit neuem Schwung. Die Aufgabe, “nationalistische und formalistische Elemente” zu beseitigen, war für die neu angegliederten
Gebiete der Westukraine besonders wichtig. Im Jahr 1952 wurde ein besonderer Besitz des Nationalmuseums in Lwiw zerstört – mehr als 700 Werke ukrainischer Künstler, darunter auch Werke von Mychajlo Boitschuk.
In einer eher ungewöhnlichen Aktion retteten die Museumsbeamten das Sondervermögen des Nationalen Museums für Moderne Kunst: Bei der Inventarisierung nahmen sie diese Werke in die Liste der Werke mit geringem Museumswert auf. Diese wertgeminderte “Nicht-Kunst” unterlag nicht mehr der ministeriellen Kontrolle. Einige Werke von Bojtschukisten und anderen Vertretern der ukrainischen Avantgarde haben überlebt, waren aber mehr als 30 Jahre lang versteckt und vergessen.
In allen führenden Museen der Sowjetunion, einschließlich der Tretjakow-Galerie in Moskau und der Eremitage in Leningrad, gab es geschlossene Sondervermögen für Werke, die für den Sowjetbürger „inakzeptabel“ waren. Nach Stalins Tod im Jahr 1953 war ihr Schicksal jedoch anders. Bereits in den 1950er Jahren wurde es mit der schrittweisen Rückkehr der Avantgarde-Kunst zum Publikum in Russland angefangen. Nach und nach wurden Ausstellungen eröffnet sowie Zeitschriften und Kataloge veröffentlicht. Die Künstler der neuen Generation begannen, einige nicht zu radikale avantgardistische Techniken in ihrer Arbeit zu verwenden. So entstand der sogenannte “strenge Stil”. 1979 und 1981 fanden unter großem Beifall die Ausstellungen Paris-Moskau und Moskau-Paris statt, die nicht nur die Avantgarde-Kunst für die Moskauer Bevölkerung zugänglich machten, sondern auch den Siegeszug der sogenannten “russischen Avantgarde” im Westen einleiteten. Die Stars beider Ausstellungen waren Kasimir Malewitsch und Oleksandra Exter aus Kyiw sowie Wladimir Tatlin aus Charkiw, die nicht nur von der russischen Propaganda vereinnahmt, sondern auch als russischer Künstler identifiziert wurden.
In der Ukraine blieb die Avantgarde-Kunst die ganze Zeit verborgen und vergessen. Junge Künstler, die mit dem sozialistischen Realismus nicht zufrieden waren, waren gezwungen, sich an Kollegen in Moskau und Leningrad zu wenden, anstatt auf ihrer eigenen Tradition aufzubauen. Schießereien, die Zerstörung von Werken, das Verstecken von Überlebenden, die Abwanderung von Talenten nach Moskau und die Aneignung ukrainischer Künstler durch Russland führten dazu, dass die ukrainische Kultur als zweitrangig und provinziell wahrgenommen wurde und nur in ihrer Naivität interessant war. Diese Ansicht wurde oft von ukrainischen Künstlern und Intellektuellen selbst geteilt, deswegen war es für sie so wichtig, aus der langweiligen Provinz ins Zentrum, d.h. nach Moskau, zu fliehen und sich in die Reihen der talentierten und tiefgründigen “russischen” Künstler einzugliedern.
Es gab jedoch auch andere ukrainische Künstler, wie die Kyiwer Künstlerin und Menschenrechtsaktivistin Alla Horska (1929-1970). Wie die Bojtschukisten ihrer Zeit schuf sie monumentale Kompositionen auf der Grundlage der ukrainischen Volkskunst. Wie die Arbeit der Bojtschukisten wurde ihre Arbeit als “zu” ukrainisch und deswegen gefährlich angesehen. Das Buntglasfenster “Schewtschenko. Die Mutter”, das Horska zusammen mit gleichgesinnten Kollegen für die Schewtschenko-Universität geschaffen hat, wurde von der verängstigten Verwaltung dieser Einrichtung als ideologisch feindlich eingestuft und vernichtet. Doch während Bojtschuk und seine Studenten sich dem Regime nur in der Vorstellung ihrer Henker widerstanden, leisteten Horska und die anderen Sechziger dem sowjetischen System echten Widerstand. Alla Horska unterstützte ukrainische Dissidenten und politische Gefangene, eröffnete Massengräber unterdrückter Menschen in Bykiwnja und förderte die ukrainische Kultur auf jede erdenkliche Weise. Genau aus diesem Grund wurde sie schließlich 1970 auf Anweisung des KGB getötet.
Anfang 2014 befanden sich die meisten intakten Mosaike, die unter der Leitung von Alla Horska entstanden, in Donezk. Ihr Schicksal nach der Besetzung ist unbekannt. Zwei weitere Mosaike, die Tafeln “Der Lebensbaum” und “Der Turmfalke”, schmückten das Innere des Restaurants “Ukraine” in Mariupol. Es besteht kaum eine Chance, dass sie die Bombardierung durch die russischen Truppen überlebt haben.
Alla Horska, Hryhoriy Synytsja, Wiktor Saretsky und andere. Tafel “Wasser”. Schule Nr. 5, Donezk. 1965
Alla Horska und die andere. “Der Turmfalke”. 1967
Die Geschichte der ukrainischen Kunst besteht jedoch nicht nur aus Verdrängung, Zerstörung und Verschleierung, sondern liefert auch Beispiele außergewöhnlicher Widerstandsfähigkeit und Vitalität. Nach der Besetzung der Region Kyiw ist der Geschirrschrank, der im Hintergrund des zerstörten Hauses in Borodjanka unangetastet blieb, zu einer Art Symbol für ukrainische Widerstandsfähigkeit geworden. Oben auf dem Schrank ist ein Keramikhahn zu sehen. Es stellte sich schnell heraus, dass dieser Hahn ein Produkt der Majolika-Fabrik in Wasylkiv ist, in der einst die Bojtschukisten arbeiteten, insbesondere Prokip Bidasjuk, ein Schüler von Wasyl Sedljar und ein Vertreter der von Bojtschukisten gegründeten Keramikschule Meschyhirja. Dieser Zufall ist so symbolträchtig, dass man es nicht einmal als Zufall bezeichnen kann.
Der russifizierte Einwohner von Kyiw Michail Bulgakow schrieb, dass Manuskripte nicht brennen. Nun, Manuskripte mögen brennen, aber die ukrainische Kunst lebt weiter, trotz aller Versuche, sie zu zerstören.