Wirtschaft
19.05.2022

Kriege und die Aussaatkampagne. Wird die Ukraine sich und die Welt ernähren können?

Jede dritte Flasche Pflanzenöl und jedes zehnte Stück Brot in der Welt kommt aus der Ukraine. Derzeit behindert der Krieg die Arbeit der ukrainischen Landwirte: die Aussaatkampagne ist in Gefahr, wichtige Logistikketten sind unterbrochen, der Export landwirtschaftlicher Produkte durch Seehäfen wurde gestoppt. Der Angreifer bombardiert landwirtschaftliche Einrichtungen, vermint Felder und stiehlt ukrainische Technik. Wie hat sich der Krieg auf die Tätigkeit der Landwirte ausgewirkt? Ist dies ein Hinweis auf den Beginn einer Hungersnot? Lesen Sie hier mehr zu diesem Thema.

Kriege und die Aussaatkampagne. Wird die Ukraine sich und die Welt ernähren können?

Über die ukrainische Agrarvergangenheit

Die Ukraine war schon immer ein Agrarland: das günstige Klima, die Lage und die fruchtbaren Böden. So befanden sich die ukrainischen Gebiete zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast vollständig unter dem Joch des russischen Reiches. Aber schon damals waren wir die Ersten in dem internationalen Lebensmittelmarkt.

Als Teil der Sowjetunion, überraschte die Ukraine weiterhin mit ihren Ernten. Beispielsweise besetzte die Ukrainische Republik nur 2,7 % des Territoriums der Sowjetunion, produzierte aber etwa 25 % aller landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Sowjetunion. In dem Territorium der Ukrainischen Republik wurden 62 % Zuckerrüben, 59 % Mais, 44 % Sonnenblumen, 26 % Kartoffeln und 24 % Weizen angebaut. 

Trotz der Ankunft der Unabhängigkeit, verlor die Ukraine in 1990-1991 die Märkte. Es war ein Ernteausfall, der zu einem starken Rückgang der Bruttoernte führte. Dieser Rückgang bestimmte den Trend für die nächsten Jahre, doch die Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage und die günstigen klimatischen und natürlichen Bedingungen erleichterten die Erholung des Sektors.

Die Phase der aktiven Entwicklung des ukrainischen agroindustriellen Komplexes fand in den Jahren 2000-2010 statt. Das Geschäftsmodell hat sich geändert. Die Ukraine begann, die Produktion aktiv zu erweitern und jedes Jahr mehr und mehr für den Export zu arbeiten.


Heute

Von 2010 bis heute befindet sich der ukrainische Agrarsektor auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Landwirte haben gelernt, moderne Technologien und fortschrittliche Geschäftsmethoden zu integrieren; sie benutzen Drohnen, Präzisionslandwirtschaft, Farm Management (FMS), usw. 

Innerhalb von 30 Jahren nach ihrer Unabhängigkeit hat sich die Ukraine zu einem leistungsstarken Agrarstaat entwickelt, der eine Vielzahl von Produkten anbaut, verarbeitet und exportiert.

Allein im Jahr 2020 hat die Ukraine:

  • mehr als 30 Millionen Tonnen Mais angebaut, von denen 23 Millionen Tonnen exportiert wurden;
  • mehr als 25 Millionen Tonnen Weizen angebaut, von denen 16 Millionen Tonnen exportiert wurden;
  • verarbeitete Sonnenblumenkerne und bekam mehr als 5,9 Millionen Tonnen Öl, von denen 5,2 Millionen Tonnen exportiert wurden.


Quelle: https://agribusinessinukraine.com/the-infographics-report-ukrainian-agribusiness-2021/

Die meisten ukrainischen Produkte wurden nach China, in die Türkei, in die Niederlande, nach Israel, Spanien, Italien usw. exportiert. Im Allgemeinen liefert die Ukraine etwa 10 % der weltweiten Weizenexporte, einschließlich für die Nahrung, etwa 16 % der weltweiten Maisexporte, fast 55 % des Welthandels mit Sonnenblumenöl.

Das bedeutet, dass jede dritte Flasche Pflanzenöl und jedes zehnte Stück Brot weltweit aus der Ukraine ist.


Krieg ändert die Regeln

Für die Ukraine ist nun die Frage der Durchführung und der Bedingungen der Aussaatkampagne im Jahr 2022 sehr wichtig. Experten sagen voraus, dass diese Kampagne die schwierigste in der Geschichte der Unabhängigkeit werden wird.

Wie Olena Neroba, Business Development Manager bei Maxigrain, macht Winterweizen traditionell 90 % des gesamten ukrainischen Weizens aus. Aufgrund der aktiven Feindseligkeiten und der teilweise oder vollständig besetzten oder umzingelten Gebiete könnte sich die Anbaufläche verringern.



Quelle: Britisches Verteidigungsministerium

Bisher sind fast alle wichtigen Regionen der Ukraine, in denen Weizen angebaut wird, bereits ausgesät. Aber nicht alle Landwirte sind in der Lage, die Feldarbeit durchzuführen, Dünger auszubringen usw. 

Die Arbeit wird auch durch Minen behindert, die auf den Ackerflächen liegen. Es gibt Minenfelder in den Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja, Tschernihiw, Kyjiw, Charkiw, Odesa, Sumy und Mykolaiv.

Außerdem stehlen die Besatzer ständig Ausrüstung. Ein solcher Fall wurde in der Region Tschernihiw verzeichnet. Dort haben die russischen Soldaten Traktoren gestohlen, um ihre getroffenen Fahrzeuge abzutransportieren.

Strategisch wichtige Objekte wie Getreideheber, Häfen und Eisenbahnen sind unter Raketenbeschuss geraten.

In sichereren Gebieten, wo man arbeiten kann, gibt es andere Probleme. Davon berichtet Olena Basanets, Chefredakteurin der ukrainischen Ausgabe von SuperAgronom.com. Die Landwirte beklagen sich über den Mangel an Treibstoff oder die Unmöglichkeit, ihn in den erforderlichen Mengen zu kaufen, weil die Mittel knapp sind.  Ein weiteres Problem für die ukrainischen Landwirte ist das Saatgut bzw. dessen Mangel aufgrund komplizierter Logistik oder fehlender Mittel. 

Auch die Frage der Düngemittel ist akut. Nach Angaben des CNBS hat der Düngemittelpreis aufgrund des ukrainisch-russischen Krieges weltweit das Rekordniveau von 2008 erreicht. Tatsache ist, dass Russland bis 2022 der weltweit größte Exporteur von Stickstoff und der zweitgrößte Lieferant von Kalium- und Phosphordünger war. Heute sind die Importketten aus dem Aggressorland unterbrochen. Die gestiegenen Gaspreise haben zu einer Verringerung der Düngemittelproduktion in Europa geführt. Dadurch wird der ohnehin schon schwierige Markt weiter verengt. 

Wenn ukrainische Landwirte im März keine Düngemittel ausbringen können, gehen Experten davon aus, dass die Ernte von Winterweizen im Durchschnitt um 15 % zurückgeht.

Was Mais, Sonnenblumen und andere Frühjahrskulturen betrifft, so hat das Ministerium für Agrarpolitik und Ernährung der Ukraine am 25. März auf seiner Website mitgeteilt, dass 11 Regionen der Ukraine mit der Aussaat begonnen haben. Bisher wurden bereits 150.000 Hektar besät. Auf den Flächen werden Mais, Sojabohnen, Sonnenblumen, Hirse, Buchweizen, Hafer und Zuckerrüben angebaut.


Welternährungssicherheit: Was ist zu erwarten?

Der Krieg legt nicht nur den Ablauf der Aussaat physisch lahm.  Auch der Export von Agrarprodukten ist bedroht, sagt Jurij Gawriljuk, Partner und Direktor des Beratungs- und Analyseunternehmens Barva Invest. Dabei sind nicht nur Gebiete betroffen, wo militärische Kampfhandlungen stattfinden, sondern auch ruhige Territorien. Die Gründe dafür sind:

  • Zerstörung der Infrastruktur und der Logistikketten,
  • Ausfälle bei der Versorgung mit Treibstoff und Ersatzteilen, 
  • Mangel an Personal (Fahrer, Wartungspersonal),
  • Probleme mit der “friedlichen” Bürokratie (z. B. bei der Erteilung von Exportgenehmigungen).

Der Feind blockiert den Seeweg, durch den die Ukraine früher bis zu 90 % des gesamten Getreides und der Ölsaaten exportierte. Infolgedessen sinken die Deviseneinnahmen und die Haushaltseinnahmen, es fehlt an Betriebskapital, die Hafeninfrastruktur liegt brach und die internationale Ernährungssicherheit ist in Gefahr.  So sind 35 afrikanische Länder von Nahrungsmittelimporten aus der Schwarzmeerregion abhängig. Das erklärte die Präsidentin der Welthandelsorganisation (WTO) Ngozi Okonjo-Iweala

Die Ukraine liefert Weizen an das Welternährungsprogramm, eine UN-Agentur, die Länder, die von Konflikten oder Naturkatastrophen wie Hungersnöten betroffen sind, mit Nothilfe versorgt.

Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian äußert sich besorgt. Er erklärt, dass der Krieg in der Ukraine die globalen Getreidelieferketten unterbrechen und eine massive Nahrungsmittelkrise auslösen könnte. 

Der Leiter des Welternährungsprogramms, David Beasley, erklärt, dass die Zahl der Menschen, die weltweit vom Hungertod bedroht sind, aufgrund des Coronavirus, des Klimawandels, der Coronavirus-Krise und des Krieges in der Ukraine bereits von 80 auf 276 Millionen gestiegen ist.

David Beasley ist überzeugt, dass der Krieg in der Ukraine zu einem Anstieg der weltweiten Lebensmittelpreise führen wird. Ein solcher Anstieg wird fatale Konsequenzen haben, insbesondere für die Armen.

Weltweite Analysten warnen, dass der Krieg die Produktion von Getreide und Ölsaaten beeinträchtigen und die Weltmarktpreise für Weizen, Verarbeitungsprodukte und Öl verdoppeln wird.  Schon jetzt herrscht in den meisten europäischen Ländern ein Mangel an Öl. Sie können dieses Produkt nur mit Beschränkung “pro Person” kaufen.

Derzeit hängt die Auffüllung der Vorräte ausschließlich von geeigneten logistischen Verbindungen ab. Die Folgen der Verringerung der Anbauflächen in der Ukraine aufgrund der Feindseligkeiten im Jahr 2022 könnten jedoch weitaus größer sein.


Werden die Ukrainer verhungern?

Die zentrale ukrainische Plattform für Agrarwirtschaft Latifundist.com veröffentlicht analytische Daten, wonach sich Anfang Februar etwa 26,6 Millionen Tonnen Getreide und Hülsenfrüchte in den Lagern und Produktionsstätten der ukrainischen Landwirte befanden. Am 1. Februar gab es in der Ukraine 6,1 Millionen Tonnen Sonnenblumenrückstände und weitere 1,5 Millionen Tonnen Sojabohnen und Raps.

Wenn es den ukrainischen Landwirten gelingt, 75 % der Ackerfläche in den Kampfgebieten einzusäen, wird nach analytischen Schätzungen von Experten der durch den Krieg verlorene Anteil der Anbaufläche um 12,5 % sinken, d. h. 24,8 Mio. Hektar werden bebaut werden.

Bei einem wenig optimistischen Szenario, in dem die Landwirte 50 % der gesamten Anbaufläche in den Regionen mit aktiven Feindseligkeiten bewirtschaften, werden 21,7 Millionen Hektar zur Aussaat freigegeben, was 23,3 % weniger ist als die Anbaufläche im Jahr 2021. 

Eine Verringerung der Anbaufläche um 34,1 % wird eintreten, wenn die Landwirte nur ein Viertel der gesamten Ackerfläche der Ukraine, d. h. 18,7 Millionen Hektar, besäen können.

Die Ukraine hat den größeren Teil der Ernte exportiert, so dass die Importeure von Hunger bedroht sind. Dennoch können die Ukrainer mit einer ausreichenden Versorgung an Nahrungsmitteln rechnen. Wie viel die Produkte kosten werden, lässt sich derzeit nur schwer vorhersagen. Natürlich wird der Krieg ein großes Loch in die Kasse der Ukrainer reißen. Landwirte und Militärs werden einen hohen Preis für die Problemlösung zahlen. Sie arbeiten unter extrem schwierigen Bedingungen und riskieren ihr Leben für die Zukunft nicht nur der Ukraine, sondern der ganzen Welt.

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